Sprechsunden im Museum
Heimatmuseen aller Art leiden zumeist an Besuchermangel. Man begegnet dem Problem oft genug damit, Künstler und Künstlerinnen aus der Region auszustellen. Der Erfolg hält sich in Grenzen. Man kann auch Events organisieren, etwa Schauschlachtungen veranstalten. Ein Tierarzt ist anwesend. Der Tötungsakt findet hinter einem Vorhang statt: „Nach dem Schlachten zeigen Hausmetzger das Zerlegen der Schweine und die Verarbeitung zu traditionellen Wurstsorten. Landfrauen stellen in der Museumsküche Griebenschmalz her. Ganztags Bewirtung mit Schlachtplatte und Kesselfleisch in der beheizten Zehntscheuer. Der Eintritt zur Metzelsuppe ist an beiden Tagen frei. Für die Schlachtung gilt ein ermäßigter Eintritt.“
Ich suchte nach einem geeigneten Ort und entschied mich nach langem Hin und Her für das erwähnte Ortsmuseum. Peter Trachsel stellte den Kontakt her. In diesem Museum werden neben Knochen und Fußabdrücken von Höhlenbären vor allem Objekte früheren bergbäuerlichen Lebens gezeigt. Auch sind einige sehr schöne Keramikgefäße, die im neunzehnten Jahrhundert hier hergestellt wurden, ausgestellt. Archaisch in der Formsprache, gleichzeitig funktional wie für den damaligen Markt und Geschmack gedacht. Diese Gefäße machen deutlich, dass es die kleinbäuerliche Welt in der oft genug behaupteten Abgeschlossenheit so nicht gab, dass jede Möglichkeit eines Ausbruchs genutzt wurde, bot sich nur eine. Es blieb nicht bei bemalenen Tonkrügen oder ähnlichen Gegenständen. Schließlich wurden Wasser- und Abwasserrohre produziert, die durchaus den Standards von im 19. Jahrhundert produzierten Waren entsprachen: normierte Röhren, Steckmodule. Gusseiserne Röhren ließen sich allerdings billiger produzieren, weshalb die Tonröhren keine Zukunft haben konnten.
Das Museum liegt mitten im Ort, direkt neben der Haltestelle des Postautobusses. Ein Gebäude aus den 1960er Jahren. Ursprünglich eine Bankfiliale. Mit leicht zu reinigenden Fließenböden. Räume, die in einem krassen Gegensatz zu den gezeigten Objekten stehen.
Ich positionierte 6 mitgebrachte Objekte, die in Heimatmuseen üblicherweise nicht zu sehen sind, auf Stelen. Täglich war ich zwei Stunden anwesend, bereit, mit jedem zu sprechen. Die ersten beiden Tage wandte sich niemand an mich. Ich hätte mich genauso gut in das benachbarte Gasthaus setzen und Bier trinken können. Allerdings ist es ein Irrtum zu meinen, die eigene Anwesenheit sei überflüssig, komme niemand. Nimmt man Anwesenheit ernst, dann muss man dies mit der Haltung tun, als könnte jeden Augenblick jemand zur Tür hereinkommen und die Sprechstunde in Anspruch nehmen. In kleineren Museen erlebt man es nicht selten: Das Licht wird erst angeknipst, betritt ein Besucher den Raum. Das hat etwas sehr Verschlafenes. Betrete ich solche Räume, so ist mir, als müsste man die Geister der Vergangenheit erst einmal wachrütteln. Aber in solcher Schläfrigkeit wachen sie nicht auf, werden sie nicht beredt. Auch deshalb wirken all die Ansammlungen so grotesk und langweilig. Man befindet sich in Totenkammern, die mit lebendiger Vergangenheit verwechselt werden. Die erwähnten Tonröhren, die heute noch da und dort auf Abbruchbaustellen zu finden sind, sind ein gutes Beispiel, wurde doch da spannende Industriegeschichte geschrieben. Man müsste sie nur lesen.
Während meiner Sprechstunden hatte ich den Eindruck, dass die eingefügten Objekte wie die aufgelegten Texte sehr wohl wahrgenommen und besprochen wurden, allerdings in meiner Abwesenheit. Eselsohren und Objekte, die nicht mehr so da lagen wie ich sie hingelegt hatte. Jemand muss sie also betrachtet, sich damit beschäftigt haben. Es ist nicht anzunehmen, dass es sich dabei um das stille Volk zu Plesse oder andere Nachtgeister gehandelt hat, von deren Existenz die in der Einschicht lebenden Bergbauern wohl bis zur Einführung des elektrischen Stromes überzeugt waren. Die Eselsohren verwiesen allzu deutlich auf Mitglieder des örtlichen Kulturvereines. Am dritten Tag kamen dann doch Besucher. Es entwickelte sich eine sehr spannende Diskussion. Als erstes wurde mir gesagt, man brauche keine Entwicklungshilfe. In Museumsdingen hätte ich zwar einiges zu sagen, aber es war keinesfalls meine Absicht, dem Kulturverein Möglichkeiten einer Weiterentwicklung des Museums zu erklären.
An das Ortsmuseum dachte ich nicht ganz uneigennützig. Ich hoffte auf einen Abgleich der Bezeichnungen von Gefäßen, die in Heimatmuseen zu sehen sind. Nicht zufällig wählte ich die Kategorie der Gefäße, versteht sich doch jedes Museum als eine Art Gefäß oder Behältnis. Dienen andere Behältnisse dem Transport oder der Aufbewahrung von Flüssigkeiten, Wasser, Milch und Wein etwa, der Aufbewahrung und dem Transport von rieselbaren Gütern wie Getreide, Mehl oder Zucker, von Nahrungsmitteln, die wie Fette einmal fest, dann wieder flüssig sein können, so behaupten viele Museen von sich, die Vergangenheit zu bewahren und zu konservieren. Das Problem liegt dort, wo sich das Konservierte nur allzu schnell in gestocktem Zustand zeigt, wie abgekühltes Fett, ist doch alles Leben, jede Hitze des Gebrauchs aus den so bewahrten Objekten entwichen.
Der Abgleich der Bezeichnungen wollte nicht gelingen, obwohl ein Vorgespräch deutlich machte, dass hier viele der Gefäße andere Bezeichnungen kennen als in einem Dorf auf der anderen Seite der Grenze. Als Sozialwissenschaftler hätte ich es wissen müssen: Legt man eine Liste mit Bezeichnungen vor, so neigen die Befragten dazu, eben diese Liste weitgehend zu bestätigen.
Das ab- und hochgelegene Dorf liegt an der Grenze zu Österreich. Bis in die jüngere Vergangenheit bildete der Schmuggel für manche eine wichtige Einnahmequelle. Während der NS-Zeit wurden auch Menschen „geschmuggelt“, damit Geld verdient. Einer meiner Freunde wählte 1938, also kurz nach dem so genannten Anschluss Österreichs, diese Fluchtroute. Ihm gelang die Flucht nach Palästina. Dort wollte es ihm nicht gefallen. Das wie auch seine Flucht hat er in einem Buch ausführlich beschrieben. In den 1990er Jahren wanderte er seine Fluchtroute in die Schweiz noch einmal ab, diesmal in Begleitung von Freunden. Diese konnten nicht verstehen, dass er sich nur für Alpenblumen interessierte. Nach solchen Dokumenten sucht man in Heimatmuseen freilich vergebens. Dabei bilden sie einen wichtigen Aspekt der örtlichen Geschichte. Aber wie ließe sich das zeigen? In unserem Gespräch tauchten weitere Fragen auf. Ob denn all die Lawinenverbauungen angemessen seien, so viel Geld der öffentlichen Hand, nur um den Bewohnern eines kleinen Bergdorfes das Überleben zu sichern?
Mitglieder des Kulturvereins sind im Augenblick damit beschäftigt, eine Tracht zu kreieren. Auch sie in ihrer abgelegenen Walsersiedlung wollten eine Tracht haben. Trachtenvereine im In- und Ausland werden besucht oder auch Trachtenmuseen wie das Juppenmuseum im Bregenzerwald. Die Tracht solle in Richtung Dirndl gehen, damit sie auch von jungen Frauen getragen werde. Die Geschichte ist brüchig. Das Tragen von Trachten war an viele Regeln geknüpft, an das Geschlecht, das Alter, an bestimmte Anlässe gebunden, oder auch Ausdruck von Prestige. Keinesfalls dienten Trachten dem Marketing, mochte auch so etwas wie Stolz gegenüber jenen mitschwingen, die diese Tracht nicht trugen. Diesbezüglich lohnt sich Gottfried Kellers Erzählung „Verschiedene Freiheitskämpfer“ aus dem Jahr 1862. Keller beschreibt treffend den Unterschied zwischen Tracht und Uniform, die unterschiedlichen Zugehörigkeiten, die mit solcher Kleidung zum Ausdruck kommt. Kellers Polemik ist nicht zu übersehen.
Die angedachte Tracht, die auf Tradition verweisen soll, gab es so nie. Es kann nur so etwas wie eine Phantasietracht herauskommen. Wie brüchig das Projekt des Kulturvereines ist, wurde während unseres Gespräches offensichtlich, und zwar ohne dass es von mir angesprochen worden wäre. Eine der Frauen, auch sie ist Mitglied des Kulturvereines, meinte, sie könne diese Tracht nicht tragen. Eine andere Frau erwiderte, selbstverständlich dürfe auch sie die Tracht tragen. Sie sei doch Mitglied des Kulturvereines, auch am Entwerfen der Tracht beteiligt. Wie sich im Laufe des Gespräches herausstellte, wuchs sie nicht im Dorf, sondern im ehemaligen Jugoslawien auf. Vor etwa zwanzig Jahren heiratete sie einen Mann aus dem Dorf, in dem sie nun seit Jahren wohnt.
Ich machte mit R. einen Spaziergang von Fideris nach Jenaz. Dort kamen wir mit einem sehr freundlichen älteren Herrn in ein Gespräch. Als wir uns als Österreicher vorgestellt hatten, interessierte er sich für meinen Hut. Ich erzählte ihm vom Hutmacher, bei dem ich den Hut gekauft habe, von einem Kleinbetrieb, der Hüte und Pantoffeln herstellt, sich also mit den beiden Enden des menschlichen Körpers beschäftigt. Der ältere Herr meinte, der Filz stamme sicher aus der Türkei. Er nahm mir den Hut vom Kopf und untersuchte ihn genau. Die grüne Zierkordel sei zu breit und nehme deshalb zu viel Schweiß auf. Einen Hut mit einer grünen Zierkordel, so meinte er, hätte hier vor zwanzig Jahren kein Mensch gekauft. Grün, das sei die Farbe der „Österreicher“ gewesen, die das Dorf in Schutt und Asche gelegt hätten. Das war im frühen siebzehnten Jahrhundert. Heute sei das anders. Der freundliche Herr trug eine Jacke mit einem Mäser-Logo. Ich meinte, das sei doch auch einmal ein österreichisches Textilunternehmen gewesen. Ja, den Niedergang des Unternehmens bedauere er sehr. Er habe dort viele gekannt.
Später kam ich mit einem Wirt in ein Gespräch. Er meinte, das sei doch schrecklich, stehe in der Küche eines Restaurants ein Schwarzafrikaner hinter dem Herd. Da könne man doch nicht von regionaler Küche sprechen. Die könnten doch keine Kartoffelrösti machen. Wie sich später herausstellte, stammte der Wirt selbst nicht aus der Schweiz. In einem Lokal wurden wir wenig später von einer sehr sympathischen schwarzafrikanischen Kellnerin bedient. Eine Frau mit Würde und Stolz, mit Umgangsformen, die sich im hiesigen Gastgewerbe nur selten finden. Wir sehen also, dass Heimat zahlreiche Verwerfungen kennt. Solche und ähnliche Dinge sind in diesem wie anderen Heimat- oder Ortsmuseen kein Thema, obwohl sie von sozialer Bedeutung sind, deutlich machen, dass es das geschlossene Dorf, die ethnisch geschlossene Gruppe nicht mehr gibt, wohl auch nie gab. Die jungen Bauern hätten übrigens Mühe, eine Frau im Dorf zu finden. Zumeist heirateten sie deshalb Frauen von auswärts.
Solche Heumatmuseen kommen zustande, indem man Dorfbewohner bittet, unterschiedlichste Objekte beizusteuern. In der Regel handelt es sich um Objekte, die sie in anderen Museen gesehen haben. Spannend wäre ein Museum, welches Dinge zeigt, die im Ofenloch oder auf dem Mull landen. Es müsste mehr Sprechstunden geben, freilich nicht von der Art der Mediziner, die nicht zuhören, aber stets davon überzeugt sind, eine Lösung anbieten zu können. Es sollte viel mehr solcher Sprechstunden geben: in Banken, Parlamenten, auf Tankstellen und in Schulen, in Krankenhäusern, im Wald oder auch auf Gletschern. Ein Heimatmuseum könnte so etwas wie ein Sprech- und Sprachraum sein.
Bernhard Kathan, Herbst 2011
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