Biwak
Zustände des Untätigseins
Das Folgende hat drei Teile und wird von Geräuschen begleitet, von denen eines nach Besi Sahar gehört, einem Dorf am südöstlichen Fuße der Annapurna in Nepal,[1] das andere entstammt dem Gehirn von Martina Tscherni,[2] deren Elektroenzephalogramm von Haimo Wisser zu einem Gehirnsurren vertont und mit einem Herzschlag ergänzt wurde; für diesen Vortrag gesellten sich Wind und Schritte hinzu.[3] Vorweg: Biwak meint das Übernachten im Freien[4] und Zustände des Untätigseins versprechen das Entstehen einer Erfahrung in Ruhe.[5]
1. Pascals leerer Raum und das Glück im Zimmer
In einer Reisebeschreibung des bayrischen Hofpredigers Jakob Rebus über den Apennin taucht 1557 zum ersten Mal das Wort Bergsteigen auf. Was es in diesem groben, unmilden Gebirge, über das der Pilger steigen muss, „für ein Schnaufen und Rasten allda gegeben hat, kann jeder erwägen, der da wisse, was es um Bergsteigen für eine sanfte Kurzweil sei“, schreibt er.[6] Bergsteigen hat also nichts zu tun mit Langweile. Das Hin und Her im Auf und Ab des Gebirges übe aber nicht nur den Leib auf mannigfaltige Weise, es wirke, fügt ein halbes Jahrhundert später der Haller Stadtarzt Hippolyt Guarinoni hinzu, auch auf das Gemüt ein und zwar so gründlich, dass dieses am Ende gar nicht mehr weiß, „zu wellichem Bürg Lust es sich wenden soll.“ Während man hierzulande das Bergsteigen auch mit der Unentschlossenheit aus lauter Lust in Verbindung bringt, arbeitet man andernorts an anderen Erfindungen, 1644 ist es so weit, Evangelista Torricelli erfindet das Barometer und mit ihm ordnet sich das Wissen um die Höhe neu. Seine zahllosen Experimente mit dem Luftdruck und über den leeren Raum haben in Rouen wiederum zwei, Vater und Sohn auf den Plan gerufen, die seit fünf Jahren diese Versuche mit großem Eifer mitverfolgen und nachvollziehen. Der Sohn, es handelt sich um den damals einundzwanzigjährigen Blaise Pascal, wird Jahre später auf diese Experimente erneut zurück greifen, um sie in einen ganz anderen Zusammenhang zu stellen und den leeren Raum der Physik, dieses Nichts im Bereich der räumlichen Ausdehnung zum Bild für unsere irdische Existenz nehmen.[7] Ohne an dieser oder in der Entwicklung anderer Vorstellungen vom Vakuum irre zu gehen, [8] soll das Bild der Leere allein zur Formung einer Denkfigur dienen, die angesichts realer Höhenerfahrung ins Wanken gerät.
- Denkfigur, Fragen und These
Ungeachtet der Schwierigkeiten, die Blaise Pascals umfangreicher Haufen ungeordneter, teilweise schwer lesbarer Texte bereitet und denen bereitet hat, die sein Manuskript der Pensées sorgfältig erhalten wollten,[9] richtet sich meine Aufmerksamkeit nur auf eines dieser Bruchstücke, nämlich auf das lange Fragment 136. Es handelt von der Zerstreuung und fängt mit einer bei Montaigne entnommenen Betrachtung über „den Grund für all unser Unglück“ an, der darin bestehen soll, „nicht ruhig in einem Zimmer bleiben“ zu können. Pascal geht einen Schritt weiter, wenn er mit Augustinus glaubt, die Ursache für die betäubende Suche nach dem Vergnügen in der Lage des Menschen entdecken zu können. Sie fasst er mit den Begriffen Unbeständigkeit, Langeweile und Ruhelosigkeit zusammen,[10] um dann eine Anthropologie des Elends und der Zerstreuung zu entwickeln, in der die Eitelkeit eine wesentliche Rolle spielt.
Diese Anthropologie der Zerstreuung hebt an bei der Zeit, genauer, in einem ihrer Rätsel, wodurch der Mensch selbst sich zu einem Rätsel wird. Denn es ist nicht die Zeit, die existiert, sondern es sind die Zeiten, die nicht existieren, mit denen sich der Mensch beschäftigt und nur beschäftigen kann, d.h. er trauert der Vergangenheit nach oder wünscht die Zukunft herbei, aber die Gegenwart entzieht sich ihm,[11] nicht zuletzt deshalb, weil sie meistens weh tut, meint Pascal.[12] Anstelle der Gegenwart tritt nun die Suche nach der Zerstreuung. Sie scheint das einzige Mittel gegen die Langeweile zu sein, die als die Folge von jener Ruhe eintritt, die man dann erreicht, wenn der Kampf geführt und alle Hindernisse überwunden sind. Hat man also das Gefecht beendet und ist man dort angelangt, wofür man fest geglaubt hat, diese Hürden alle auf sich nehmen zu müssen, geht es von Neuem los, weil die zutiefst ersehnte und schwer verdiente Ruhe währt nicht lange, sie schlägt um im Nu und man stürzt sich erneut ins Getümmel, dieses Mal aus Langeweile.
Die Struktur dieser Dynamik erklärt Pascal, dessen Menschenbild weniger mechanistisch ist als es den Erkenntnissen moderner Psychologie entspricht, durch zwei geheime Triebe, die aufgrund ihrer Gegenstrebigkeit große Verwirrung und mithin Unglück im Menschen stiften. Der eine Trieb erwächst aus dem Gefühl des beständigen Elends und bewegt dazu, äußerliche Zerstreuung und Beschäftigung zu suchen, der andere Trieb ist von der Größe unserer Natur übrig geblieben und lässt die Menschen erkennen, dass das Glück nur in der Ruhe und nicht im Tumult liegt. In dieses Hin und Her verstrickt verrinnt die Zeit, eine Zeit, die man entweder damit füllt, an das Elend zu denken, das man erleidet, oder an jenes, das einen bedroht. Und selbst wenn es gelänge, sich dagegen ausreichend zu schützen, wäre das Problem nicht aus der Welt geschafft. Es gibt dann immer noch die Langeweile, die eingewurzelt in den Grund des Herzens daraus empor dringt und den Geist vergiftet.[13] Die Langweile gehört insofern und so sehr zum Menschen, wie man ihn sich innerlich leer vorzustellen vermag, so leer, dass er zig Gründe zur Langeweile besitzt und weshalb die geringste Kleinigkeit, der winzigste Anstoß von außen genügt, um ihn zu zerstreuen.
Das klingt in der Tat ausweglos, entmutigend. Doch Pascal überrascht mit einer Umkehrung: Wenn die Suche nach der Zerstreuung das einzige Mittel sei, der Langweile zu entgehen, muss man aber noch eines wissen, man muss wissen, dass es bei den unzähligen Arten der Zerstreuung einzig auf die Jagd, nicht auf die Beute ankomme, d.h. man soll sich nicht verführen lassen von etwas, das lediglich ein Vorwand und nicht der wirkliche Grund für das Vergnügen sei.
Ein zweifellos ernst zu nehmender Gedanke, denn wenn es die Jagd und nicht die Beute ist, die den Menschen die Zerstreuung verschafft, würden jene, die der Zerstreuung nichts abgewinnen können, sie verurteilen und zur Ruhe raten die menschliche Natur geradewegs verkennen. Jemanden Ruhe anzuraten, würde bedeuten, ihm zu sagen, er solle glücklich leben. Glücklich zu leben aber hieße „Eine ganz und gar glückliche Lage zu haben, über die er in aller Muße nachdenken kann, ohne einen Anlass zum Kummer dabei zu finden. (...) Daher vermeiden die Menschen, die von Natur aus ihre Lage wahrnehmen, nichts so sehr wie die Ruhe; sie lassen nichts unerprobt, um die Aufregung zu suchen,“ schreibt Pascal. [14] Und darin besteht das einzige Gut der Menschen, von den Gedanken an ihre Lage abgelenkt zu werden, das sei aber auch schon alles, was die Menschen haben erfinden können, um sich glücklich zu machen.[15]
Angenommen, Blaise Pascal hat recht und ohne Zerstreuung gibt es keine Freude, mit der Zerstreuung keine Traurigkeit und beides zusammen genommen bedeutet das Glück, was hieße das dann für einen Menschen, der keine Ablenkung sucht, findet oder finden kann? Hat man sich so jemanden zwangsweise unglücklich vorzustellen? Und wenn dem nicht so ist, lässt sich beschreiben, warum? Lässt sich angeben, womit dieser nicht unglückliche Zustand zusammenhängt, einher geht und was ihn bedingt?
Nun, ich behaupte dieses andere Glück stellt sich gerade dann ein, wenn man nicht im Zimmer sitzt, sondern es verlässt und aufbricht zu einem für Menschen annähernd leeren Raum. Daran gebunden wäre allerdings die Notwendigkeit, von der Vorstellung abzulassen, dass Ruhe der Unruhe, dem Tätigsein, der Ablenkung oder Zerstreuung gegenüber liegt wie ein Ufer dem anderen, zugunsten eines Bildes, das die Ruhe inmitten der Unruhe wahrnimmt, je unruhiger, aktiver, anstrengender, mühevoller, schwerer oder turbulenter es wird, desto mehr.
Wo sind nun solche Orte, an denen man Menschen antrifft, die sich freiwillig in eine Lage gebracht haben, die keine Ablenkung gestattet, was aber weder Enttäuschung noch Verzweiflung hervorruft, sondern eine stille, nüchterne Ruhe voll des Glücks?
Diese Orte gibt es, die Menschen auch, nicht haufenweise, aber genug davon, man denke nur an die Reisebeschreibungen, speziell an die Literatur über die Berge.[16] Dieses Mal wage ich etwas anderes zu tun und gegen die Gewohnheit und Verführung des Extremen mich an einen beinahe Normalfall zu wenden. Im Mittelpunkt steht ein Übergang. Er wurde Jahrhunderte lang von Pilgern benutzt und heute ist er so viel wie in Vergessenheit geraten. Es handelt sich um den Namun Bhanjyang. Dieser Pass liegt abgeschieden auf 5600 Meter Höhe und zu Wort wird nicht Edward Whymper, Reinhold Messner, Jerzy Kukuczka oder Wanda Rutkiewicz, kommen, sondern ich selber, nur. Erzählt wird versuchsweise in drei Teilen von dem, was zur Muße gehört, mit ihr aber nicht selbstverständlich verbunden wird.
Es ist Donnerstag, der 16. Oktober 2004 kurz vor Mitternacht. Allmählich wird es still, dunkel ist es seit Stunden. Ausgestreckt auf einem Boden, der gefroren ist, uneben und leicht nach unten hängt, rutsche ich bei jeder Bewegung ein bisschen Richtung Zeltausgang. Ich ziehe den Rucksack quer vor den Ausgang, um das Abrutschen zu stoppen und lasse mich dann, im Schlafsack rücklings auf die Isoliermatte sinken. Endlich nichts mehr tun, nur noch ausruhen. An Einschlafen ist nicht zu denken, weniger wegen der Müdigkeit, als vielmehr wegen der Eindrücke, die zu ordnen es bisher keine Zeit gab.
- Vereinfachung: Energie sparen durch Dösen
Schwarz. Durchbrochen von kleinen Lichtkegeln, die in unregelmäßigen Abständen nach unten wandern und am Ende einer langen, leicht abfallenden Querung nach rechts auf der Stelle treten und dabei ein Wirrwarr von Lichtzeichen erzeugen.
So mag das Ganze von außen ausgesehen haben, anderes bewahrt das Körpergedächtnis. Hinter uns liegt der Pass, ringsum rosa, türkis bis mit dem Dunkelviolett zuletzt auf den Achttausendern die Nacht da ist und mit ihr der Wind. Beides, Wind und Nacht hilft. Nach 14 Stunden Aufstieg bei Hitze, Kälte und Nebel gibt die Dunkelheit Schutz und der Wind Widerstand. Wenn nur, was in die engen Lichtkegel der Stirnlampe fällt, zu sehen ist und das selbst nur für kurze Zeit, erholt sich das Auge und mit ihm das Herz. Kein Panorama überwältigt mehr, die Übersicht geht verloren und mit ihr das Messen. Man überlässt sich der Nacht, dem Wind und dem Gelände und plötzlich setzt eine andere Art von Sicherheit ein. Man vertraut sich nur noch dem Spüren an. Dass der Wind nicht seitlich, von hinten, sondern von vorne kommt und mithin zur Gegenkraft wird, nimmt man erst jetzt, erleichtert wahr. Zu müde vom vielen Gehen wirkt die Schwerkraft doppelt, d.h. man steigt nicht mehr, sondern fällt oder sackt eher nach unten und der Wind hält dagegen, sanft vom Stolpern zurück, richtet einen auf und mischt unter die Schwere eine Spur von Leichtigkeit. Mit ihr kehrt diese kindliche Freude, sich vom Untergrund tragen zu lassen, zurück und man entdeckt den Schnee, frisch, hüfthoch über der Blockhalde, nicht mehr nur als Hindernis und Gefahrenquelle, sondern als etwas, das weich ist und nachgibt, aber auch hält und trägt, dort, wo sich der Schnee bereits gesetzt und verfestigt hat. Jene Stellen ausfindig zu machen und dann auch noch von denen zu unterscheiden, die nicht nur verschneit, sondern vereist oder gefroren sind, ist eine Aufgabe, die sogar Lust erzeugt, weil sie mit den Füßen geschieht. Die Füße sind wie Fühler und ertasten trotz Schuhsohle und Steigeisen, noch bevor man den Boden berührt, woraus dieser besteht und zwar je länger, desto präziser. Manchmal aber auch nicht und dann gerät man für den Augenblick aus dem Gleichgewicht oder sogar ins Rutschen, um dann, mit einer einzigen, heftigen Bewegung der Arme sich aufzufangen und wieder still zu stehen.
Dass die Flanke etwa 350 Neigung hat, gute 400 Meter nach unten zieht und dann ins Irgendwo abbricht, das war vor dem Eindunkeln gerade noch einzusehen. Das Ergebnis der raschen Vermessung hat sich fest in den Körper eingeprägt. Nun weiß er, wie viel Spielraum er hat und wo dieser aufhört. Aber weshalb kann er das wirklich wissen? Und woher weiß er, dass sogar in der kleinsten Verausgabung an Energie etwas davon noch zu gewinnen ist? Wie ist es möglich, eine derart sichere Kenntnis darüber zu haben, dass bei jeder Bewegung etwas anderes sich zur gleichen Zeit zurück nimmt, entspannt und daher neuerlich zu Kräften kommt? Wem sind diese Kräfte, wem das Wissen um sie zuzurechnen? Wer also führt die Regie, ist es das Können, der Körper, die Seele, oder doch der Verstand?
Auf diese schwierigen Fragen riskiere ich eine simple Antwort: Energieersparnis entsteht durch Vereinfachung und mit ihr einher geht das Dösen. Dösen entspricht der Natur am meisten, weil sie, das wagt der Publizist Michael Miersch zu behaupten, von Natur aus faul ist.[17] Sie hält sich so lange wie möglich in einem Schlummerzustand, was zumindest und gegen den Darwinschen struggle for life für die Tiere gilt. So vergammelt beispielsweise der Löwe 22 Stunden des Tages wohlig im Schatten eines Baumes und schickt den Rest des Rudels vor zum Jagen; die Eule verbringt den ganzen lieben Tag mit Schläfrigsein und gilt deshalb als weise; der Steinadler lässt sich gemütlich von der Thermik tragen und schlägt nur zur Not selbst mit den Flügeln. Oder das Faultier, dessen Bewegungsdrang minimal wie die Fellpflege ist, während es dem menschlichen Antlitz so sehr wie kein anderes Tier gleicht. Die Aufzählung könnte man lange fortsetzen[18] mit dem Ergebnis, dass Tiere Meister darin sind, sich das Leben so einfach wie möglich zu machen. Sie nutzen fremde Energien für ihre Zwecke, lassen sich tragen, treiben, halten, schaukeln und mitziehen, vergraben, verkriechen, rasten und ruhen sich aus, Tiere überdauern. Sie überdauern aber nicht, weil sie sich unbändig bewegen, sondern weil sie das selten und so sparsam wie möglich tun.[19] Warum sollten es die Menschen ganz anders machen, insbesondere dann, wenn sie sich in der Natur aufhalten? Weshalb sollten sie nicht auch Dösen, wobei unter Dösen nichts Derbes, Dumpfes oder Stumpfsinniges zu verstehen ist, eher etwas, das vorzugsweise unbemerkt, lautlos still, mäßig langsam und dort sich einstellt, wo die Turbulenz und Gefahr wegen der Ermüdung zunimmt. Dösen zum Selbsterhalt und Dösen als eine andere Bezeichnung dafür, wie die Wahrnehmung arbeitet, arbeiten im Sinne von tierischer Anstrengung und nicht im Sinne menschlicher Mühe, Plackerei und Schwere, die im Schweiße des Angesichts einen unter die Schneedecke zieht. Beim Dösen bleibt die Aufmerksamkeit eingebettet, etwas unscharf, angedaut, aufgeweicht. Sie hat sich auf ein mittleres Niveau der Reizbarkeit eingependelt, so dass sie ohne jede Aufregung gerade noch jenen Spuren zu folgen vermag, die sie dorthin führt, wo das Spektakel angehalten, Verausgabungen abgebremst und jedes vorzeitige Aufbrauchen der Kräfte angezeigt wird, auch der Aufbrauch ihrer selbst. Um sich selbst zu erhalten, gerät die Wahrnehmung in einen merkwürdig geschonten Zustand des Dösens und achtet so fortdauernd die Gefahr. Entgegen der Annahme liegt sie nicht bis zum Zerreißen gespannt auf der Lauer, sondern wandert, gleitet, lässt sich treiben, selbst und besonders dort, wo es ernst wird. Konzentration, die aber nicht die Form einer Bündelung annehmen muss, sondern besser noch die von Streugut, wegen der Nacht und der Steinbrocken unter den Füßen und weil im Abwärtsgehen auch noch das Plätzchen im Freien gefunden werden muss, wo ein Biwak einzurichten wäre, vielleicht dort drüben, wo es den Anschein macht als rage ein Fels meterhoch wie ein Schild aus dem Schnee.
- Ausgleich: Vom Geschmack des Ausgegangenen
Als wir heute Morgen vor die enge, rauchige Lagerstätte traten, war es gegen 4 Uhr und es schneite immer noch. Vor uns lag der Pass, fünf Tage zurück das letzte Dorf. Die Entscheidung fiel rasch, wir stapften, ohne zu reden, los, die 1700 Höhenmeter zu überwinden und hinein in die Nebeldecke. Gegen Mittag hörte es zu schneien auf, die Sonne kam durch, es blendete, glitzerte, wir machten zwei Mal Halt, tranken Schwarztee und nahmen die Landschaft jenseits der Landschaft auf. Das bedeutet, dass man, was ringsum sich befindet, sieht, aber nicht nur sieht, es ist zu hören, riechen und man schmeckt es auch. Vor allem schmeckt man all die Schritte, die gemacht wurden. Es ist, als hätte sich in ihnen etwas ausgekostet und dabei abgenutzt und aufgebraucht, je mehr sie werden, desto deutlicher stellt sich dieses Wissen ein. Aber was ist es, das sich auf die Wege, Hänge und Rücken streut, und ausgegangen zurück bleibt vor Ort? Aus großer Ferne betrachtet, gleicht der Abdruck der Schritte im Schnee einfachen Schriftzeichen, dünn gesät, als hätte man sie verloren oder dort liegen lassen. Überreste einer Sehnsucht, die sich in Acht davor nimmt, mit der Wirklichkeit zu sehr zu verkehren und deshalb ins Freie flieht, hinein in diesen weißen, menschenleeren Raum. Während man diesen Raum durchschreitet, verliert die Sehnsucht an Dichte und ist schon nicht mehr ganz da. An ihre Stelle tritt etwas anderes. Früh morgens, als wir aufgebrochen waren, unten von der Steinhütte aus am See, hatte unser Steigen etwas Eindringliches, jetzt aber, nach Stunden des Gehens und Steigens, ist die Eindringlichkeit einer Zurückhaltung gewichen, das Beißende des Müssens und die Schärfe des Wollens einer Milde des Dürfens, die man in China, das wenige Bergkämme weiter nördlich liegt, vermutlich mit dem Geschmack des Faden in Verbindung bringen würde. Fadheit als das Prinzip des Ausgleichs, der Übergang zwischen zwei Polen, ein Zeichen, das kaum noch eines ist, Rückkehr aus überflüssigen Bedeutungen, gleichsam eine Welt, in die wir eintreten, wenn wir weit genug gegangen sind, vergleichbar mit den letzten Farben des Jahres, einer Olive, die lange gekaut oder mit einem Berg, der tief genug empfunden wurde. Ist das der Fall, wird das Fade zum Tor, welches dazu verleitet, über uns hinaus zu gehen. Es öffnet unsere Subjektivität für den Gemeinsinn aller Dinge, ist zugleich ihr Muster und trägt so bei zur Ordnung der Welt.[20]
- Der Moment: Stätte, Beweggrund und Gelegenheit
Die letzten Meter musste man zum Pass hinunter steigen, das Barometer zeigte 5580 Meter an. Leichter Nebel zog auf, schemenhaft standen einzelne Zacken ab vom Grat, der nach Süden abfällt und es war nicht auszumachen, ob diese Zacken durch Erosion entstanden sind, oder von Pilgern errichtet wurden. Jedenfalls hat man Gebetsfahnen um sie geschlungen, davon war ein Hauch von Gewebe übrig geblieben. Ich habe mich beeilt, saß nun dort oben auf dem Grat, eine viertel Stunde für mich allein und schob eine Rippe Zartbitterschokolade in den Schnee, für die Götter, das kannte ich aus den Berichten der Achttausendermenschen. Es gab kaum etwas zu sehen, nichts zu hören, so unendlich still war es. Für den Moment fühlte ich mich aus der großen Faltung der Zeit heraus- und in die Gegenwart,[21] in das à propos der Zeit treten, wie Montaigne am Ende seiner Essais schreibt, „Wenn ich tanze, tanze ich – wenn ich schlafe, schlafe ich.“
Während dieser kleinen Verrückung bekam ich eine Ahnung davon, was es mit der Kraft zum Leben auf sich hat. Sie hatte, nichts weiter sonst war jetzt vorhanden und eingefügt in den Ablauf der Natur, etwas Wildes und war imstande, Klarheit zu verschaffen über den Beweggrund, all das ohne den Gedanken an einen anderen Ort zu tun. Dieser variierende Moment schreibt nichts vor, er leistet keine Überzeugung und keine Reflexion, hat weder Abstand noch Perspektive, kommentiert und moralisiert nicht und verlangt auch nicht, den gegenwärtigen Augenblick zu nutzen, weder für die Arbeit, noch für den Genuss und auch nicht für die Muße. [22]
3. Nachhall
Der Mensch sei nach Pascal deshalb unglücklich, weil er sich nur mit den Zeiten beschäftigen kann, die nicht existieren, daher müsste Glück ohne die Zerstreuung dort stattfinden, wo Zeit nicht mehr gedacht wird, sondern nur noch gelebt. Davon handelte dieser Moment am Namun Bhanjyang und Leben war gemäß dem Moment zu verstehen, nicht in der Zeit, sondern genau an diesem Übergang zwischen Zukunft und Vergangenheit. Die Ankunft in der konkreten Zeit wurde ergangen, sie hat sich lange, geschmacklich vorbereitet und sich erst dann eingestellt, als der Geschmack des Faden den der Schärfe, der die Anstrengung des Aufstiegs begleitet, auszugleichen vermochte. Das Ausgegangene war die Bedingung für die Ankunft in der Gegenwart und an den Verlust gebunden, die Zeit sich als eine Hülle vorzustellen.
Darauf hat mich nach der Rückkehr ins Zimmer die Lektüre François Julliens Über die „Zeit“ aufmerksam gemacht; draußen im Freien wurde der Verlust direkt, in der feinen, untrüglichen Wahrnehmung dessen wirksam, was die Härte aus der Spannung nimmt, vom Druck entlastet, beruhigt und durch Vereinfachen Kräfte spart; Dösen als menschlicher Grundzustand an einem der Enden des Animalischen.
Die Eindrücke von damals, die im Biwak flüchtig nur Gestalt annahmen, um übers Jahr irgendwie lautlos abzusinken, habe ich noch einmal aufgestört und wach gerufen und dabei die Entdeckung gemacht, dass Erfahrung ihrerseits der Ruhe bedarf, einer Ruhe inmitten des Aufruhrs, der Unruhe, so, als wäre sie selber wie ein Biwak beschaffen, ein Biwak zum Glück, notdürftig, vorübergehend, keine feste Ruhestatt, nur das Nadelöhr im Wechsel vom Raum in die konkrete Zeit.
Unterhalb dieser konkreten Beschreibungen hat sich Muße auch nicht als das Gegenüber der Arbeit, sprich von Aktivität, Anstrengung, Mühe, Schwere oder Plackerei herausgestellt, sondern als etwas, das subtiler verfährt und daher nicht davon zwangsweise entkoppelt werden muss,[23] was Folgen hat für die Utopie, die im Muße-Thema steckt. Die Utopie wird umgekehrt oder verfehlt, wie ich Emile M. Cioran sagen höre,[24] weil das Biwak nur ein Durchgang, radikal diesseitig war, ohne die Hoffnung oder den Entwurf einer besseren Welt mit den nur guten Menschen. In die Höhe, weder gut noch böse, steigen auch und vorzugsweise die anderen, die Enttäuschten, um den eigenen Verfall weniger los zu werden als ihn zu begreifen und damit anzufangen, sich zu vergessen, wodurch das Ganze simpel endet, denn alles vor, nach und am Namun Bhanjyang wäre auch, vielleicht sogar eher und besser noch geschehen, hätte man Blaise Pascal folgend das eigene Zimmer nie verlassen, aber in den Zimmern, die ich kenne, schneit es nicht.
[1] Die 8091 Meter hohe Annapurna bedeutet Fülle, Gabe und sie hat nicht nur einen, sondern drei Gipfel aus Schnee und Eis. Die ersten Menschen, die das Ende des Berges erreicht haben, waren am 3. Juni 1950 die beiden Franzosen Maurice Herzog und Louis Lachenal; am 24. Oktober 1984 gelang Norbert Joos und Erhard Loretan die Besteigung des Ostgrats und mithin die erste Überschreitung der Annapurna; ihre Umrundung in tieferen Lagen zählt zu den beliebtesten Trekkings in Nepal und benötigt dafür von Besi Sahar bis Beni etwa drei Wochen.
[2] Die 1963 geborene und heute in Wien lebende Tiroler Künstlerin, deren großformatige Zeichnungen u. a. in der Graphischen Sammlung der Albertina in Wien zu sehen sind, hat als Bestandteil einer Installation mit dem Titel Brain Box, die 1998 in Madrid und 1999 in der Galerie Goldener Engel in Hall i. Tirol gezeigt wurde, ihr mehrere Meter langes EEG vom 1998 verstorbenen Komponisten, Musiker und Wahltiroler Haimo Wisser, dessen umfangreicher musikalischer Nachlass dem Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck anvertraut wurde, mit Hilfe komplizierter Verfahren zuerst in Geräusche umwandeln und anschließend vertonen lassen.
[3] Diese Ergänzung hat Helmut Eberhöfer vorgenommen.
[4] Das Wort kommt vom Französischen bivouac und meint die Übernachtung außerhalb einer Hütte, meist auf Bergen. Diese Lager im Freien, die man auch aus dem Krieg kennt, werden auf einem möglichst windgeschützten, steinschlag- und lawinensicheren Platz errichtet, notfalls gräbt man ein Schneeloch. So ein Sitz- oder Liegeplatz ist natürlich nichts, wo man sich freiwillig länger aufhält, dennoch schafft dieser simple Ort auf Zeit eine besondere Zeit vor Ort (vgl. dazu Peskoller 19993, 239f)
[5] Damit wird der Vortrag Erfahrung, den ich im Rahmen der Jahrestagung der Kommission für Pädagogische Anthropologie Ende September 2005 in Erlangen gehalten habe, genau an der Stelle fortgesetzt, wo sich der Schnittpunkt der insgesamt 13 Passagen eines Denkmodells befindet, das den Versuch unternimmt, die Bedingungen für eine Erfahrung anschaulich darzustellen und in Folge eine Reihe von Verhältnissen ausfindig macht, die es im Detail auszuarbeiten gilt wie beispielsweise das Verhältnis von Bewegung und Empfindung, Wahrnehmung und Erinnerung, Abwägung und Entscheidung, Handlung und Berührung.
[6] Rebus zit. nach Schottenloher in Stolz 1928, 2. Teil, 46 (vgl. dazu Peskoller 19993, 17)
[7] Als Blaise Pascal die Ordnung und Bedeutung der Zahlenreihen in der Mathematik entdeckt hat, ging er davon aus, dass die Leere, das Nichts der Kreatur seinen Platz in einer der verschiedenen Ordnungen erhält, die dann die ganze menschliche Geschichte und die vom Menschen getroffenen Entscheidungen zu deuten erlauben. Pascals naturwissenschaftliche Arbeiten und sein metaphysisches und religiöses Denken ist untrennbar miteinander verbunden und diese große Einheit, dieser unlösbare Zusammenhang drückt sich in den Pensées aus und bereitet insbesondere dann Schwierigkeiten, wenn man die geistige Grundlagen derselben ermitteln möchte (vgl. Blaise Pascal, Einführung von J.-R. Armogathe 2004, 14)
[8] Andeuten möchte ich an dieser Stelle den Zusammenhang nur von Leere, Lücke, Glück, das vom g(e)lücke kommt und zugleich an den Zwischenraum erinnern, das Dazwischen und an die Bedeutung der Null, des Nichts und des Vakuums: Parmenides behauptet, dass das Nichts für eine Beschreibung der Welt unnötig ist, Empedokles zeigt durch Experimente mit der Klebshydra,, dass die Natur die Erzeugung eines horror vacui nicht zulässt, Demokrit sieht alle Materie aus unteilbaren Atomen aufgebaut, die sich im Vakuum bewegen und Newton formuliert in seinem Hauptwerk Principia Mathematica Philosophiae Naturalis die klassische Vorstellung vom absoluten Raum und er tut dies knapp nach Pascals Tod. Sehr viel später, um 1850 wird dann Robert Boyle zeigen, dass sich der Schall im Vakuum nicht ausbreiten kann, das Licht aber ungehindert durch es hindurch geht, 1873 wird Maxwell die einheitliche Theorie des Elektromagnetismus entwickeln und elektromagnetische Wellen voraussagen, deren Ausbreitung im Äther stattfindet, 1887 wird das Michelson-Morley-Experiment beweisen, dass das Vakuum nicht von einem materiellen Äther erfüllt ist und 1905 wird Albert Einstein zunächst die spezielle Relativitätstheorie auf der Basis der Unbeobachtbarkeit des Äthers entwickeln, um 1915 in der Allgemeinen Relativitätstheorie auf der Grundlage der Äquivalenz von schwerer und träger Masse schließlich behaupten zu können, dass der Raum (Vakuum) gekrümmt ist; nach Heisenbergs Unschärfebeziehung, Andersons Positron in der kosmischen Höhenstrahlung, Lambs und Rutherfords Nachweis der Existenz virtueller Teilchen im Vakuum kommt es von 1946 bis 1950 durch Feyman, Schwinger und Tomonaga zu einer Renormierung des Vakuumszustandes und H.C. Casimir wird auf die veränderbare Nullpunktsenergie des Vakuums verweisen und daraufhin vermuten, dass das Vakuum eine innere Struktur haben kann (Higgs-Felder, Goldstone-Bosonen); in Folge kommt es zu einer Reihe praktischer Anwendungen von Vakuumstrukturmodellen bis hin zur Entwicklung der Vorstellung vom geladenen Vakuum in starken Feldern und all das wird nach weiteren Zwischenschritten C. Rubbia und S. Van der Meer 1984 den Nobelpreis einbringen (vgl. Rafelski/Müller 1985, insbes. 195 ff)
[9] Diese Schwierigkeiten haben sich gemehrt, weil man das Manuskript der Pensées sorgfältig erhalten wollte und zu diesem Zweck die eigenhändig geschriebenen Fragmente, die Pascalforscher „Originalsammlung“ nennen, bereits 1662/63 zweimal sehr gewissenhaft in kleine Heftchen übertragen hat, wobei bei der ersten Abschrift die einzelnen Aktentitel durch unterschiedliche Hefte gesondert wurden, die man dann nach 1715 eingebunden hat. Die Originalhandschrift wurde auf große Bogen geklebt, eingebunden und 1711 den Benediktinern der Pariser Abtei Saint-Germain-des-Prés übergeben. Alle drei Sammlungen, die Originalsammlung und die zwei Abschriften sind erhalten geblieben und befinden sich heute in der Pariser Nationalbibliothek. Die ersten drei Herausgeber hatten 1670 bereits versucht, diesem Text eine gewisse Ordnung zu geben und diese Versuche wurden dann im 19. und 20. Jahrhundert mehrfach wiederholt. Das Geheimnis könnte mit der Einsicht verbunden sein, dass es sich als Ganzes um einen einzigen Gedanken handelt, weil Pascal in der Ausarbeitung seiner Werke von „Kernpunkten“ oder Leitideen ausging, „die alle als Anhalt für den Gesamtaufbau dienen“ (Blaise Pascal, Einführung von Armogathe 2004, 19). Im Verzeichnis der Aktenbündel, die in den Abschriften mit Titel versehen sind, kommt Folgendes vor: Ordnung, Eitelkeit, Elend, Langeweile, gesunde Meinungen des Volkes (das wurde aber wieder durchgestrichen und anstelle dessen notiert: Ursachen der Wirkungen), Größe, Widersprüche, Zerstreuung, Philosophen, Das höchste Gut, An Port - Royal, Beginn, Unterordnung und Gebrauch der Vernunft, Vortrefflichkeit, Übergang, Die Natur verderbt nicht, Falschheit der anderen Religionen, Liebenswerte Religion, Grundlage, Bildliches Gesetz, Rabbinisimus, Beständigkeit, Beweise für Moses, Beweise für Jesus Christus, Prophezeiungen, Bilder, Christliche Moral, Schlussfolgerung (vgl. ebd., 20)
[10] Parallel dazu heißt es unter dem Titel Langeweile und Haupteigenschaften des Menschen im Fragment 78/126: „Beschreibung des Menschen. Abhängigkeit, Verlangen nach Unabhängigkeit, Bedürfnisse“ (Blaise Pascal 2004, 67). An dieser Stelle sei auf die interessante Beobachtung Victor von Weizsäckers hingewiesen, der die Langeweile nicht nur mit psychischen, sondern auch mit körperlichen Vorgängen in Verbindung gebracht hat (Gesichtsausdruck, Innervation der Extremitäten usw.) und bei aller Anerkennung, die der sexuellen Libido wegen ihres Erklärungswertes durch die besondere Beziehung zur individuellen Körperlichkeit in der Medizin zukommt, müsse man aber auch zeigen und dieser Nachweise fehle bislang, dass auch Langeweile, Neugierde und Verdruss den körperlichen Vorgang nicht weniger bestimmen als die Sexualität. Wobei von Weizsäcker an dieser Stelle die Frage nach der Freiheit bzw. Entscheidung vorliegen sieht, da für ihn jemand das ist, wofür er sich entscheidet. Somit sind Langweile, Neugierde und Verdruss zwar als machtvolle Kräfte anerkannt, aber nicht als solche, welche das letzte Wort haben, das der Entscheidung vorbehalten bleibt und zwar deshalb, weil Leben und Tod nicht in die Sphäre des Seins, sondern in die Sphäre der Entscheidungen fallen (vgl. von Weizsäcker 1956, 307f)
[11] Im Fragment 47/171 heißt es: „(...) Die Vergangenheit und die Gegenwart sind unsere Mittel; allein die Zukunft ist unser Ziel. Deshalb leben wir nie, sondern hoffen auf das Leben, und da wir uns ständig bereit halten, glücklich zu werden, ist es unausbleiblich, dass wir es niemals sind“ (Blaise Pascal 2004, 54f)
[12] Vgl. Blaise Pascal 2004, 54
[13] Vgl. ebd. 99
[14] Vgl. das Fragment 136 in Blaise Pascal 2004, 97
[15] Wobei diese Ablenkung durch eine Beschäftigung geschieht „oder durch irgendeine angenehme und neue Leidenschaft, die sie ausfüllt, oder auch durch das Spiel, die Jagd, irgendein anziehendes Schauspiel und schließlich durch jenes, was man Zerstreuungen nennt“ (vgl. ebd. 96)
[16] Das erste mir bekannte freiwillige Biwak wird 1492 durch Antoine de Ville vom Gipfel des Mont Aiguilles vermeldet, wo er sich drei Tage lang aufhielt bis der Hofschreiber unten von seiner Ankunft oben offiziell Notiz nahm; 1540 soll Philotheo eine Nacht auf dem Ätna zugebracht haben und ein Jahr später biwakiert Fazellus mit mehreren Begleitern unterhalb desselben Gipfels; ob 1669 der Sultan Mehemed IV. mit seinen Gefährten auf dem Olymp ebenso eine Freinacht verbracht hat, wurde nicht berichtet, ist aber wahrscheinlich, denn alle waren schwer erkältet und erkrankt. Nicht viel anders mag es König Philipp V. von Makedonien 181 n. Chr. auf dem Rilo Dagh ergangen sein, den man erst nach drei Tagen zähen Ringens erreicht hat.[16] Das erste Notbiwak auf einem Gletscher dagegen ist genau dokumentiert, getroffen hat es 1786 Jacques Balmat bei seinem sechsten Versuch auf dem Mont Blanc, kurz vor der schließlich doch geglückten Erstbesteigung, als er beim Abstieg mutterseelenallein in die Nacht gekommen ist und mit seinem Stock eine Spalte entdeckt hat, die morgens noch hart gefroren, jetzt aber aufgeweicht war und unter seinen Füßen nachgab, weshalb er beschlossen hat, vor dieser Gletscherspalte zu schlafen. Er tat was er konnte, schob seinen Sack unter den Kopf, die Schneereifen unter seinen Rücken und unternahm allerlei Körperübungen, um im Gletschereis nicht zu erfrieren. Seine Kleider waren hart und gefroren, sie boten keinerlei Schutz. Aber er hatte die Nacht überstanden und erreichte bereits um acht Uhr morgens wieder das Dorf (vgl. Peskoller 19993, 240). Selbstverständlich gäbe es Biwakgeschichten noch zuhauf, die zu erzählen, sich zweifellos lohnt, erinnert sei an das Matterhorn von 1865 beispielsweise, an den Mount Everest 1953, den Nanga Parbat 1957 und 1972, den Fitz Roy, El Capitan oder die Trango-Türme am Ausgang des letzten Jahrhunderts (vgl. Peskoller 2001 und 19993, insbes. 239ff)
[17] Vgl. Miersch zit. nach Schneider 20054, 55
[18] Bei dieser Aufzählung kämen beispielsweise Hund und Katz vor, Walross, Kuckuck, Seepferdchen, Spinne Albatros, Schlange, Dohle, Schnecke, Schmetterling, Zikade, Bär, Taube, das Pflanzenschaf und wider Erwarten gehören sogar die emsigen Bienen dazu, denn sie arbeiten nur 30 Prozent des Tages und im Winter tun sie gar nichts, außer an den Honigvorräten sich zu laben und die Temperatur im Stock aufrechterhalten; kaum anders geht es bei Ameisen zu, denn einzelne Individuen der Art Letothorax acervorum bringen, das haben englische Forscher mit der Stoppuhr herausgefunden, ganze 78 Prozent ihren Lebens mit Ausruhen zu (vgl. Schneider 20054, 49 ff; vgl. aber auch Das Tier in mir 2002 und den Physiologus 2001)
[19] Als Bestätigung und Kontrastierung zugleich ließen sich hier Ciorans Überlegungen zur Freiheit lesen, da Freiheit für ihn unendlich zerbrechlich ist und sie kein Mittel hat, sich zu bewahren und die Gefahren zu überleben, die sie von innen und von außen bedrohen (vgl. Cioran 1965, 19). Deshalb gehört für Cioran zur Freiheit die Verausgabung, die den Menschen entkräftet, während Unterdrückung dazu veranlasst, Kräfte zu horten, „die Energieverschwendung verhindert, die sich aus dem Vermögen des freien Menschen ergibt, zu zeigen, nach außen zu projizieren, was er an Gutem besitzt. Man versteht, warum die Sklaven zuletzt immer den Sieg davontragen. Zu ihrem Unglück äußern sich die Herren, sie höhlen sich aus, drücken sich aus: die ungezwungene Anwendung ihrer Gaben, ihrer Vorteile aller Art reduziert sie zu einem Schattenzustand. Die Freiheit hat sie verzehrt“ (Cioran 1982, 166).
[20] Vgl. Jullien 1999, 114 ff
[21] Dadurch, so könnte man sagen, habe ich konkret und für die Winzigkeit eines Herzschlags tatsächlich erlebt, worin möglicherweise Julliens philosophische Strategie besteht, wenn er die Zeit nicht mehr als eine Hülle, sprich als abstrakte Zeit, sondern im Umweg über das chinesische Denken als etwas zu begreifen sucht, das um den Preis dessen nur gedacht wurde und werden kann, was es heißt, im „Jetzt“ zu leben. (vgl. Jullien 2004, 9 ff)
[22] Vgl. dazu Jullien 2004, 142 ff, der an die Einschreibung dieses diskreten Moments die Frage nach dem Glück knüpft und danach eine noch größere, nämlich die nach dem Leben stellt, die lautet: Wie wäre in der Philosophie die Frage nach dem Leben anzugehen? Was Jullien selbst vorschlägt, ist, diese Frage nicht auf Seiten der Zeit, der vergehenden Zeit (dem instans), sondern auf Seiten des variierenden Moments als die Quelle von Erneuerung zu suchen (vgl. hierzu auch die Auseinandersetzung mit Bergson, Hegel oder Kant bis Jacobi ebd. 145 ff)
[23] Indem ich Muße nicht als Gegenstand, sondern als einen Zustand begreife, der sich während einer Tätigkeit diskret, unvermutet einstellen kann, weil man Zeit gibt, sich vom Ablauf der Dinge tragen lässt, stelle ich mich gewissermaßen der Forderung nach einer Entkoppelung von Arbeit und Muße entgegen. So eine Forderung hat auf überzeugende Weise beispielsweise Konrad Paul Liessmann erhoben: „Wenn es uns aber ernsthaft, aus welchen Gründen auch immer, darum gehen sollte, zu dieser Welt der Arbeit, die allumfassend geworden ist, wirklich noch so etwas wie die Möglichkeit und die Chance einer wahrhaften Alternative, einer ‚Muße’ zu entwerfen, dann werden wir nicht umhin kommen, darüber nachzudenken, wie wir Lebenseinkommen, Lebenssicherung, soziale Standards, Wertschätzung von kommunikativen und gemeinschaftlichen Tätigkeiten auf der einen Seite und Arbeit, Arbeitseinkommen, Erwerbstätigkeit, Kapitalgewinne, Produktivität von mehr oder weniger notwendigen Gebrauchsgütern auf der anderen Seite zu ‚entkoppeln’. Denn das scheint mir die einzige ökonomische und soziale Voraussetzung zu sein, dass wir tatsächlich einen Boden finden, auf dem wir ein anderes Verhältnis zur Arbeit gewinnen können als das, dass wir es als Ausdruck und Wesen des Daseins verstehen“ (Liessmann 2002, 239). Wobei der Autor einräumt, dass diese Entkoppelung mit Sicherheit kein Leichtes wäre, da „es ein neuerliches Einüben in soziale, kulturelle und emotionale Verhaltensweisen bedeuten würde, die wir uns unter vielen Schmerzen in den vergangenen fünf Jahrhunderten ausgetrieben haben“ (ebd.). Es wird davon ausgegangen, dass die Reflexion des Verhältnisses von Arbeitszeit und Freizeit zu einer paradoxen Erfahrung der Gegenwart nötigt, die auf zwei sich einander widersprechende Thesen bringen lassen: Die erste These lautet, dass die Arbeit immer weniger wird und die zweite besagt, dass wir alle immer arbeiten. Nun ist es aber nicht so, dass die Verknappung der Arbeit zur Ausdehnung einer tatsächlich arbeitsfreien Zeit führt, sondern sie bewirkt bestenfalls eine Expansion der Freizeit und „damit wird alle Tätigkeit in der Zeit, die nicht der Erwerbsarbeit gewidmet ist, dennoch nach dem Modell von Arbeit konfiguriert“ (ebd. 227f; bezeichnenderweise fehlt im Glossar der Gegenwart der Begriff Muße; vgl. zur Unterscheidung, Begründung und Erklärung von Arbeit auch Pieper 1989).
[24] Vgl. Cioran 1965, insbes. 91ff
Literatur
- Arbeit, Freizeit, Musse. Was ist eine Universität? Zwei Beiträge von Josef Pieper. Regensberg: Münster 1989 (Akademische Reden und Beiträge; 5)
- Blaise Pascal Gedanken über die Religion und einige andere Themen. Hgg. von Jean-Robert Armogathe. Aus dem Franz. übersetzt von Ulrich Kunzmann. Reclam: Stuttgart 2004
- Cioran, Emile, M., Geviertelt. Aus dem Franz. übersetzt von Bernd Mattheus. Suhrkamp: FaM 1982 (im franz. Original 1979)
- Cioran, Emile, M., Geschichte und Utopie. Klett: Stuttgart 1965 (im franz. Original 1960)
- Michel de Montaigne, Essais. Eine erste Gesamtübersetzung von Hans Stilett. 3 Bücher. Eichborn : FaM Taschenbuchausgabe 4/2000
- Das Tier in mir. Die animalischen Ebenbilder des Menschen. Hgg. von Johannes Bilstein und Matthias Winzen. Verlag der Buchhandlung W. König: Köln 2002
- Glossar der Gegenwart. Hgg. von Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke. edition suhrkamp: FaM. 2004
- Jullien, François, Über das Fade – eine Eloge. Zu Denken und Ästhetik in China. Merve: Berlin 1999
- Jullien, François, Über die „Zeit“. Elemente einer Philosophie des Lebens. diaphanes: Zürich/Berlin 2004
- Liessmann, Konrad Paul, Freizeit als Arbeitszeit. Über die Vernichtung der Muße in der Moderne. in: Zeit und Geschichte 2002, 227-239
- Peskoller, Helga, BergDenken. Eine Kulturgeschichte der Höhe. Eichbauer: Wien 19993
- Peskoller, Helga, extrem. Böhlau: Wien/Köln/Weimar 2001
- Physiologus. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger. Reclam: Stuttgart 2001
- Rafelski, Johann/Bernd Müller, Die Struktur des Vakuums. Ein Dialog mit dem „Nichts“. Verlag H. Deutsch: Thun 1985
- Schneider, Wolfgang, Die Enzyklopädie der Faulheit. Ein Anleitungsbuch. Eichborn: FaM 20054
- Weizsäcker, Victor von, Pathosophie. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 1956
- Zeit und Geschichte. Hgg. von Erhard Chvojka, Andreas Schwarcz und Klaus Thien. Oldenbourg: Wien/München 2002
Montag, 20. Juli 2009
Abonnieren
Posts (Atom)